Der Begriff Dystonie bezeichnet ein Syndrom unwillkürlicher Muskelkontraktionen mit resultierender tonischer Fehlhaltung mit oder ohne repetitive tremolöse oder irregulär phasische Bewegungen. Die klinische Klassifikation der Dystonien erfolgt nach den folgenden Kriterien der klinisch-phänomenologischen Präsentation und der zugrundeliegenden Ätiologie: 1) Alter bei Beginn (infantil, Kindesalter, juvenil, frühes und spätes Erwachsenenalter), 2) Topische Verteilung der unwillkürlichen Bewegungen, (fokal, segmental, multifokal, generalisiert oder Hemidystonie), 3) Zeitlicher Verlauf der dystonen Symptome (im Langzeitverlauf statisch oder progredient, tageszeitlich fluktuierend, aufgabenspezifisch, paroxysmal) sowie 4) Assoziation mit weiteren neurologischen Symptomen (isolierte Dystonie, zusätzliche Bewegungsstörungen oder zusätzliche andere neurologische Symptome).
Im Erwachsenenalter stellen die fokalen Dystonien wie zervikale Dystonie, Blepharospasmus, oromandibuläre Dystonie oder Schreibkrampf die mit Abstand häufigsten Formen der primären Dystonie-Syndrome dar. Bei allen fokalen Dystonien ist die lokale Behandlung mit Botulinum-Toxin Typ A die Therapie der Wahl.
Zervikale Dystonie
Die Wirksamkeit und Sicherheit von Botulinum Toxin Typ A (BoNT-A) bei zervikaler Dystonie konnte in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien nachgewiesen werden [Truong 2005, Brashear 1999, Brin 2008, Brashear 2012, Fernandez 2013, Mordin 2014] (Empfehlungsgrad A).
Die wichtigsten Faktoren für ein gutes Ansprechen sind korrekte Muskelauswahl und adäquate BoNT-Dosierung. Eine Injektionskontrolle mittels EMG oder Ultraschall kann im Falle von Problemen bei der Muskelidentifikation mittels Palpation hilfreich sein [Nijmeijer 2012].
Nach BoNT-Injektion beträgt die Wirklatenz ca. eine Woche, die Dauer des Maximaleffektes etwa vier Wochen und die Dauer des Gesamteffektes durchschnittlich 10-12 Wochen mit jedoch interindividuell großem Streubereich. Anschließend ist eine Reinjektion erforderlich. Bei kurzfristiger BoNT-Reinjektion („Booster“-Injektionen) zur Wirkungsoptimierung besteht das Risiko der Antikörperentwicklung gegen das Toxin. Patienten werden in diesem Fall therapierefraktär. Ein sekundäres Therapieversagen lässt sich durch den Nachweis neutralisierender Antikörper bestätigen.
Es besteht eine klare Dosis-Nebenwirkungsbeziehung hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen (Costa 2005). Die häufigsten Nebenwirkungen von BoNT sind Schwäche der Nackenmuskulatur, Dysphagie, trockener Mund/Halsschmerzen und Stimmveränderungen/Heiserkeit.
Für incobotulinumtoxin konnte eine randomisierte kontrollierte Studie erstmals die Sicherheit flexibler Injektionsintervalle zwischen 6-20 Wochen in einem Dosisbereich zwischen 120-240 units incobotulinumtoxin pro Behandlung ohne signifikante Zunahme von Nebenwirkungen bei kürzerem Reinjektionsintervall nachweisen [Fernandez 2012].
Hinsichtlich der Auswahl des Serotyps für die Erstbehandlung zeigt Botulinumtoxin Typ B (rimabotulinumtoxin) gegenüber Botulinumtoxin Typ A bei Patienten mit zervikaler Dystonie häufiger Mundtrockenheit und Dysphagie als Nebenwirkung.[6] Zusätzlich besteht bei Behandlung mit BoNT-B gegenüber BoNT-A ein deutlich höheres Risiko für die Entwicklung neutralisierender Antikörper bei Patienten mit zervikaler Dystonie (Jankovic 2006, Chinnapongse 2012). Daher sollte rimabotulinumtoxin nicht in der Erstbehandlung der zervikalen Dystonie zum Einsatz kommen.
Blepharospasmus
Der Blepharospasmus stellt eine der häufigsten Indikationen für den Einsatz von Botulinumtoxin dar. Ein Blepharospasmus imponiert meist als unwillkürlicher, intermittierend kräftiger Lidschluss. Daneben kann der tonische Blepharospasmus und der Lidöffnungs-Inhibitions-Typ (Lidapraxie) abgegrenzt werden. Die Störung kann zu einer funktionellen Blindheit führen.
Die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit Blepharospasmus konnte in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien mit einer hohen Effektstärke nachgewiesen werden, ca. 90% der behandelten Patienten sprechen auf die Therapie an [Costa 2005, Roggenkämper 2006, Truong 2008, Jankovic 2011] (Empfehlungsgrad A).
Nach BoNT-Injektion beträgt die Wirklatenz ca. 3-4 Tage, die Dauer des Gesamteffektes durchschnittlich 12 Wochen mit jedoch interindividuell großem Streubereich. Anschließend ist eine Reinjektion erforderlich. Die Effektivität in der Langzeitbehandlung konnte in mehreren unkontrollierten Studien nachgewiesen werden [Streitova 2014, Ababneh 2014].
Das Risiko der Antikörperentwicklung gegen das Toxin scheint in dieser Indikation minimal.
Es besteht eine klare Dosis-Nebenwirkungsbeziehung hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen. Die häufigsten Nebenwirkungen von BoNT sind transiente Ptose, passagere Diplopie, vermehrtes Augentränen und Hämatome an der Einstichstelle. Die Nebenwirkungen sind in der Regel mild und klingen innerhalb von 2 Wochen meist vollständig ab (Fahn 1985, Elston 1992, Berardelli 1990, Jankovic 2011, Truong 2013).
Oromandibuläre Dystonie
Klinisch ist bei der oromandibulären Dystonie (OMD) die Kieferschlussdystonie von der Kieferöffnungsdystonie zu unterscheiden.
Die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit Kieferschlussdystonie und Kieferöffnungsdystonie konnte in mehreren unkontrollierten Studien gezeigt werden (Jankovic 1988, Blitzer 1989, Hermanowicz 1991, Van Den Bergh 1995, Tan 1999, Bhattacharyya 2001, Laskawi 2001, Sinclair 2013) (Empfehlungsgrad B). Die Kieferschlussdystonie zeigt ein besseres Ansprechen auf BoNT als die Kieferöffnungsdystonie, bei letzterer ist auch häufiger mit passageren Nebenwirkungen im Sinne einer Dysarthrie und/oder Dysphagie zu rechnen (Jankovic 1988, Blitzer 1989, Hermanowicz 1991, Tan 1999, Bhattacharyya 2001, Sinclair 2013).
Das Risiko der Antikörperentwicklung gegen das Toxin scheint in dieser Indikation minimal, ist bisher aber nicht systematisch untersucht.
Spasmodische Dysphonie
Klinisch ist bei der spasmodischen Dysphonie (SD) die SD vom Adduktortyp mit gepresster Stimme und die SD vom Abduktortyp mit hauchender Stimme zu unterscheiden.
Die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit SD vom Adduktortyp wurde in einer randomisierten und kontrollierten Studie (Truong 1991) sowie in mehreren und zum Teil größeren unkontrollierten Serien gezeigt (Maloney 1995, Blitzer 1998, Brin 1998, Courey 2000, Langeveld 2001, Watts 2006, Watts 2008) (Empfehlungsgrad A).
Die Injektionsbehandlungen können unilateral oder bilateral durchgeführt werden, eine direkte Vergleichsuntersuchung konnte keine Überlegenheit der bilateralen gegenüber der unilateralen Injektion zeigen (Adams 1995). Die durchschnittlichen Besserungsraten bei der SD vom Adduktortyp liegen zwischen 70-95% (Blitzer 1998, Brin 1998, Fulmer 2011). Die Wirkdauer liegt bei Patienten mit SD vom Adduktortyp bei 12-16 Wochen (Blitzer 1998). Als passagere Nebenwirkungen können milde Dysarthrie und Dysphagie sowie kleine Hämatome an der Injektionsstelle beobachtet werden (Truong 1991).
Die Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT bei SD vom Abduktortyp ist unzureichend. Unkontrollierte Serien berichten einen geringeren Effekt und eine kürzere Wirkdauer der BoNT-Therapie bei SD vom Abduktortyp im Vergleich zur SD vom Adduktortyp; als mögliche Nebenwirkung von BoNT bei SD vom Abduktortyp wird milder Stridor berichtet (Blitzer 1992, Blitzer 1998).
BoNT Injektionsbehandlungen bei spasmodischer Dysphonie sollten ausschließlich kontrolliert (EMG oder Laryngoskopie) durchgeführt werden, wobei kein Hinweis für die Überlegenheit einer Methode gegenüber der anderen besteht (Galardi 2001). Die BoNT Therapie der Patienten mit spasmodischer Dystonie sollte interdisziplinär erfolgen.
Schreibkrampf und Musikerkrampf
Die Wirksamkeit und Sicherheit von BoNT-A bei Patienten mit Schreib- und Musikerkrampf konnte in mehreren randomisierten und kontrollierten Studien nachgewiesen werden [Poungvarin 1991, Tsui 1993, Jankovic 1993, Cole 1995, Wissel 1996, Lim 2006, Kruisdijk 2007] (Empfehlungsgrad A).
Das heterogene klinische Spektrum und die hohen Anforderungen an eine optimale Koordination der Handmotorik resultieren jedoch in einer deutlich geringeren Effektstärke von BoNT bei Schreib- und Musikerkrampf im Vergleich zu craniozervikalen Dystonien. In Langzeituntersuchungen brechen ca. 50% der Patienten aufgrund unzureichender Wirkung oder aufgrund lokaler Nebenwirkungen die BoNT-Therapie ab (Schuele 2005, Kruisdijk 2007, Jankovic 2013).
Es besteht eine klare Dosis-Nebenwirkungsbeziehung hinsichtlich der Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen. Häufig tritt eine die Finger- und Handmotorik kompromittierende mehrwöchige Schwäche nach lokaler BoNT Injektion auf (Wissel 1996, Schuele 2005, Kruisdijk 2007).
Es existieren keine kontrollierten Vergleichsstudien zwischen palpationsbasierter und apparategestützter BoNT - Injektionsbehandlung im Hinblick auf Wirksamkeit, Wirkdauer oder Nebenwirkungen bei Patienten mit Schreib- oder Musikerkrampf. Zur Injektionskontrolle können entweder EMG, lokale Elektrostimulation oder Sonografie verwendet werden. Eine offene Vergleichsstudie konnte keinen Unterschied im Behandlungsergebnis zwischen Elektrostimulations- und EMG-gesteuerter BoNT-Injektion nachweisen (Geenen 1996).